Märchen

zurück zur Übersicht

Gaya & Nilathia, die Reise zu den Sternen

 

 
Wir flehten unsere Eltern an,
uns ihren Segen zu geben.
Vergebens.
Gemeinsam zu leben, verbot uns der Kastenstand.
 
Getrennt sollten wir werden,
verbracht in die entlegensten Gegenden des Landes.
Unsere Liebe sollt verwelken, 
wie die geschnittenen Blumen auf einem Grab.
 
Am frühen Morgen, dem Tag unserer Trennung,
in unserer größten Angst,
im Meer der unendlichen Traurigkeit, 
flehten wir sie an: die aufgehende Sonne, den untergehenden Mond.
 
Denn man sagte: wenn Mond und Sonne sich am Himmelszelt begegnen,
dann geschehen Wunder auf dem Erdenrund.
Und so erfuhr uns das Glück für viele Leben:
es erschien uns ein Zauberer.
Einem Märchen gleich, gewährte er drei Wünsche.
 
„Achtet auf das, was Ihr wünscht. 
Vor dem letzten Wunsch seid Euch gewiss,
nach diesem folgt kein weiterer mehr.
So ist dieser der Kostbarste“,
sprach er und löste den Ersten ein.
 
Er beschwor den Geist der Erde, 
der Fackeln entflammte,
und uns den Rauch als dichten Nebel sandte.
In dessen Mantel wir unsichtbar 
das Haus, unser Dorf verließen – als Unerkannte. 
 
Wir durchschwammen den breiten Fluss,
hörten die wütenden Schergen unserer Eltern am anderen Ufer,
drohend, dumpf ihre Schreie, die uns fortan wie Bestien hetzten sollten. 
 
Wir flohen durch Wüsten, stürzten in tobende Meere –
ertranken Hand in Hand unzertrennlich,
wurden geborgen, 
um in den Höhen der Berge fast zu erfrieren.
 
Entkräftet, einen Atem dem Tode voraus, 
beschworen wir ein zweites Mal den großen Zauberer,
der uns darauf den blauen Geist der Lüfte sandte.
Wir breiteten unsere Arme aus, an denen die Gewänder in Fetzen hingen,
die sich, ach Wunder wahr, zu Segeln aufbliesen.
Und so trug uns der Wind über das schier endlose Gebirge,
ließ uns wie Federn leicht im fremden Land, der fremden Stadt,
zwischen fremden Menschen vom Himmel hoch auf einen Marktplatz niederschweben.
Wir schliefen tief, erschöpft, ohne Kraft,
und hörten sie ganz nah und doch so fern flüsternd sagen:
 
„Seht, da liegen zwei, Hand in Hand, Arm in Arm,
voneinander nicht lassend, halten fest, was sie am meisten lieben.
Sind dünn, frierend, zitternd ihre Körper,
die Kleider zerschlissen und blutig die nackten Füße.
Wir legen sie in unsere Betten und
geben ihnen das, was uns wärmt, heilt und stärkt.
Das wird auch ihnen Gutes tun.“
 
Die Fremde wurde Heimat.
Die Fremden zu Freunden.
Und sahen wir doch des Tages, in der Nacht, Jahr ein, Jahr aus
zu unserer Sonne und zu unserem Mond
und dachten an jene, die uns einst verbannten,
auf der anderen Seite der Erde,
ohne Gram – das Herz voller Schwermut.
„Wisst Ihr, dass wir leben, dass uns ein Glück in der Fremde widerfahren?“ 
Über ihnen strahlte dieselbe Sonne, glänzte derselbe Mond.
Das einzig war geblieben, was uns verband. 
 
Fern unserer Mütter und Väter,
in der Fremde sind wir alt geworden.
Im Palast der ewigen Liebe,
in einem kleinen Haus voller Leben
waren wir Königin Gaya und König Nilantha.
Sind gestorben vor hundert Jahren
und hoch oben am Firmament
wachen wir seither als Sterne
über das Glück unserer Ur-Ur-Ur-Urenkel.
Ob sie von uns ahnen?
 
Den kostbarsten Wunsch hatten wir aufgespart auf unserer Flucht.
Ein Leben lang zögerten wir, ihn einzulösen. 
In Angst, alles könnte von Neuem beginnen, bewahrten wir ihn als unseren Schatz.
 
Hier nun geben wir ihn frei.
So erhöre uns ein letztes Mal, Zauberer unseres Glückes. 
„Gewähre zwei Liebenden, die Not erleiden, in Drangsal stehen,
drei Wünsche, um frei zu sein, als das, was sie sind: 
Nur Liebende
wie Königin Gaya und König Nilantha.“
 
Ein Märchen von Dirk Grünig
geschrieben für die Funkel-Fenster 2023/24